Hier ist sie: meine zweite Rezension aus der Reihe „Kinderbücher für Erwachsene“. „Kein Kuß für Mutter“ von Tomi Ungerer. Ich habe nachgesehen, 2014 gab es eine neue Auflage, da wird auch mit Doppel-S geküsst. Im Buch selbst wird überhaupt nicht geküsst (erstmals nicht im Jahr 1974).
Da wird vor allem rebelliert!
Mutter Angora Tatze ist eine säuselnde Mutti, die ihr Baby hätscheln will. Vater Tatze ist verständnisvoll dem renitenten Sohn Toby gegenüber – prügelt ihn aber trotzdem mit dem Spazierstock, wenn er es zu dolle treibt. Der Sohn ist ein echter Hallodri. Er ist Störenfried Nummer 1 in seiner Schulklasse und von allen Dingen auf der ganzen Welt will er nur eines nicht: dass ihn seine Mutter wie ein Baby behandelt! Er schmiert den Mädchen Bastlerleim in den Nacken, zerstört ein Auto, prügelt sich, bis sein halbes Ohr abgerissen ist. Danach rauchen er und sein Kumpel erst Mal eine. Zum Schluss bekommt er ein schlechtes Gewissen, nachdem es irgendwann auch seiner sonst so zahmen Mutter reicht. Sie zieht ihm auch eine über – obwohl sie das vorher noch nie getan hat! Trotz Versöhnung: Küssen lassen möchte er sich bis zum Schluss nicht. Nein heißt nein, das muss seine Mutter lernen.
Solche Coming off age Geschichten erzählen viele Kinderbücher
Sie betreffen dann zum Beispiel die Übergangsphasen von der Kleinkindzeit zum Schuleintritt oder andere Entwicklungsschritte. Klassiker sind auch Geschwisterrivalitäten. Da stampft mal einer wütend auf, dort schubst der große Bruder seine neue Schwester. Alles nichts (!!!) gegen das, was Toby veranstaltet und wie seine Eltern darauf reagieren. Natürlich ist die Geschichte vollkommen überzeichnet und es handelt sich bei den Protagonist*innen um Katzen. Dass die sind nicht zimperlich sind, musste auch der Junge schon erfahren. Wichtig ist außerdem die zeitliche Einordnung: Die Handlung findet den Zeichnungen nach zu urteilen kurz vor oder während des zweiten Weltkrieges statt. Ich mache diese Vermutung an der Kleidung der Katzen und der dezenten Nazi-Uniform mit Binde fest. Entlarvend: Das Hitlerbärtchen dieses Katers, der verdutzt dreinschaut, als Mutter Tatze ihrem Sohn eine langt. Was viele von uns heute gruselt, war damals ganz normal.
In Deutschland ist das „Recht auf Züchtigung “ erst seit dem Jahr 2000 abgeschafft
Erst da ersetzte es der Gesetzgeber durch das Recht auf gewaltfreie Erziehung. Auch wenn die Prügelstrafe nicht zu den propagierten Erziehungsmaßnahmen der in Deutschland bekannten Ratgeberautorin Johanna Haarer gehörten: ihr erstmals 1934 erschienener Bestseller „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“* spiegelt recht deutlich die vorherrschende Meinung wieder, das Kinder nicht verweichlicht sein dürfen. Ungerer selbst stammt aus dem Elsass. Mit dem beobachtenden Katzen-Nazi rekonstruiert Ungerer möglicherweise ein sehr realistisches und ungeschöntes Bild der Zeit seiner eigenen Kindheit.
Wie muss das gewesen sein: Eine Kindheit, in der Drill und Gehorsam für eine heranwachsende Kriegernation sorgen sollten? Für Kinder, die dennoch nicht zu stark, laut und selbstbewusst sein durften – denn das Ziel „selbstständiger Kinder“ bedeutete ja nicht, dass diese Kinder auch ihren eigenen Kopf haben durften. Wie erging es denen, die Schwierigkeiten hatten, sich unterzuordnen? Wenn Kinder immer untergeordnet, immer gehorsam den Erwachsenen gegenüber sein sollten – wie konnten sie ihre Grenzen wahren? Wie fühlt sich ein Kind, wenn es einerseits hart im Nehmen sein soll, andererseits aber doch einfach ein Kind ist, das Erwachsene wie ein solches behandeln? Letzte Frage: Wie hält ein Kind all diese Gefühle und Wiedersprüche aus?
Das Buch ist also vielleicht mehr Verarbeitung Ungerers eigener Kindheit im Krieg als ein Vorlesebuch für 2-Jährige.
Es ist aber ein Buch für uns Erwachsene – ein sehr wichtiges sogar
Was Ungerer in dem Buch darstellt, ist nicht einfach eine niedliche Katzenfamilie, die sich ein bisschen balgt und wieder verträgt. Und die pädagogische Quintessenz dreht sich nicht einfach nur um den Akt des Vergebens. Aufmerksam gelesen zeigt das Buch vor allem durch die sehr laute Rebellion, was wir Erwachsenen oft missverstehen. Wenn ein Kind sich extrem verhält, will es einem vielleicht etwas sagen und hat dafür noch nicht die Worte. Wenn ein Kind die Worte hat, ist es wichtig, sie zu hören und anzunehmen.
Es dient uns später, wenn wir es ihm vorlesen (und eigentlich auch jetzt, wenn dem Jungen das Buch in die Hände fällt, dann nehmen wir es ihm nicht weg) dazu, zu erklären was das für eine Zeit gewesen ist. Wir erklären, dass Prügeln und Rauchen schlecht sind, und zwar nicht nur die Schulhofprügeleien, sondern auch die Gewalt der Eltern. Aber wir reden auch darüber, dass Grenzen wichtig sind. Dass es wichtig ist, dass sich Toby so laut Gehör verschafft. Und dass sich unser Junge nie scheuen soll, sich Gehör zu verschaffen. Wir wollen ihn hören. Wir respektieren seine Grenzen. Und er soll lernen, dass die etwas gelten.
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Kleiner Exkurs
Der Ratschlag, „schreien lassen“ kräftige die Lungen, stammt unter anderem von ihr, ebenso die Warnung vor Zärtlichkeit dem Kind gegenüber – das müsse einfach verweichlichen. Ein weiterer Titel von Johanna Haarer lautet „Mutter, erzähl von Adolf Hitler“ und damit ist klar, warum dieses Buch so regen Anklang fand. Der not so funny fun fact am Rande: Die letzte Auflage von „Die deutsche Mutter…“ erschien 1987. Das Buch hat einen langen Schatten geworfen:
Während mein Vater noch davon berichtet, dass er sich nicht an besonders viele Umarmungen von seiner Mutter überhaupt erinnern kann, musste meine Mutter sich dafür rechtfertigen, dass sie meine Schwestern und mich nicht hat schreien lassen. Damit war sie Ende der 80er pretty progressive – andere Mütter in meinem Alter (und jüngere) berichten von Diskussionen und Rechtfertigungen ihren eigenen Eltern gegenüber, wie sie meine Mutter 1988 hat führen müssen. Wenn Menschen von „Verweichlichung“ unken, spüre ich die ideologische Erbsünde meine Wirbelsäule runterkriechen und das nächste Fass, wie es – Überraschung Überraschung – zu strukturellem Rassismus kommen kann, mache ich nicht auf. Ich kann da nur steile Thesen aufstellen, habe aber gar nicht das fachliche Knowhow, das an dieser Stelle auszuführen. Ich nenne es meine erste Assoziation.