Mein Opa sagte vor ein paar Jahren zu mir: „Damals, im harten Winter von 1963, als du geboren wurdest, …“ Er wohnte noch nicht im Seniorenheim und zu dem Zeitpunkt waren wir noch eher kurz verwundert über solche Aussagen, lachten sie weg. Manchmal träumte er nämlich und hielt am Tag darauf den Traum für die Wirklichkeit.
Ich sagte: Du meinst 1987? Ich bin aber im Herbst geboren? Die Verwirrung war komplett: Er hielt mich für Mechthild (so heißt meine Tante) – die allerdings im November Geburtstag hat. Wer im Winter zur Welt kam, war mein Vater. Und wie die Geschichte weiterging erzählte mir meine Oma wieder ein paar Jahre später, als ich schwanger war:
Es war der harte Winter von 1963, im Februar – alle Zeichen standen auf Geburt
Meine Oma war hochschwanger und hatte Wehen. Die Hebamme sollte kommen – auf dem Dorf waren Hausgeburten damals gängiger, als Klinikgeburten. Denn die nächste Klinik war auch im Westen 1963 nicht so leicht zu erreichen, weil nicht alle ein Auto hatten. Aber es lag ungewöhnlich viel Schnee! Die Hebamme konnte nicht kommen und es war überhaupt schwer, sie zu erreichen. Telefone hatten zu dem Zeitpunkt auch nicht alle Haushalte, aber meine Großeltern schafften es, Bescheid zu sagen. Aber dann: Zu viel Schnee, die Hebamme kam nicht durch! Am Ende erreichten sie aber noch den Schwager meiner Oma, er half die Hebamme mit dem Traktor zum Hof meiner Großeltern zu schaffen – und sie kam gerade noch rechtzeitig, um meinem Vater auf die Welt zu helfen.
Es ist ein harter Winter 2021 – alle Zeichen stehen auf Geburt
Im Februar. Der Geburtstag meines Vaters ist mittlerweile verstrichen, mein Entbindungstermin noch nicht ganz, der Schnee schmilzt aber nicht. Ich frage mich, wie hoch damals der Schnee lag. War die Welt auch so still? Bestimmt, wie durch Watte, sagen alle. Ob es wirklich ein Traktor war, der die Hebamme holte kann ich übrigens eigentlich gar nicht mehr so genau sagen, meine Erinnerung an die Geschichte ist schneeverweht.
Meine Oma ist letztes Jahr im Januar gestorben. Und auch mein Opa: im Januar dieses Jahres gestorben. Keiner wird uns mehr davon erzählen, wie das war, als die Hebamme im harten Winter 1963 fast nicht kommen konnte. Heute, wo so viel Schnee wie seit langer Zeit nicht mehr liegt, würde ich gerne meine Oma fragen: Hattest du dolle Angst? Wie ging es dir? Wie weit warst du schon, wie lange hatte es gedauert, als die Hebamme dann kam? Warst du beruhigt, als sie dann da war? Gab es Komplikationen? Oder einen Geburtsstillstand? Wie waren die Herztöne, wie war das Fruchtwasser, hat euch die Hebamme darüber informiert, weißt du das noch?
Und auch: Wo waren die anderen Familienmitglieder, was hat Mechthild in der Zeit getan? War Opa für dich da? Warst du alleine, konntest du dich zurückziehen?
Was, wenn unsere Hebamme nicht durchkommt? Heute liegt der Schnee immer noch so hoch, dass wir unser Auto nur schwer aus dem Parkplatz im Hof bekommen würden, sollten wir ins Krankenhaus müssen. Andere Autos am Straßenrand sind komplett eingeschneit. Letztes Wochenende, als der Schnee mitten in der Nacht so eskalierte und ich mit Senkwehen 3000 im Wohnzimmer schon vorsorglich die Kerzen angezündet hatte, musste ich an den harten Winter von 1963 denken. Und daran, dass auch damals alles gut gegangen ist.