Zwei Tage auf dem Land und wir haben diesmal die Katze einfach mitgenommen. Zwei Wochen bleibt sie hier und zwei Tage hat es gedauert, bis sie die erste Maus vor die Terrassentür gelegt hat. Voll akklimatisiert, das gute Tier. Schneller als ich. Meine Ambivalenz dem Landleben gegenüber ist noch zu stark ausgeprägt, als dass ich meinen Eltern ihren größten Wunsch erfülle und mit Sack und Pack in die Nähe ziehe. Unsere Mäuse lassen sich in der Stadt leichter fangen, als auf dem Land.
Ja, frische Luft. Ja, Ruhe.
Wobei – Ruhe: Das Piepsen der Mähdrescher in der Nacht, das Rauschen der B3, die am Ort vorbeiführt und auf der trotz nächtlichem Fahrverbot natürlich immer noch genug LKW für Großstadtfeeling sorgen. Das Kirchturmgeläute fand ich so nervig in seiner Ausdauer, wie damals mit 12 und wenn in der Kneipe nebenan ACDC-Revival-Party ist, schlafe ich in unserem Stadtschlafzimmer ruhiger. Die Ruhe ist relativ: Sobald es mehr davon gibt, sind die vereinzelten Störfaktoren schwergewichtiger. Dann lieber die White Noise der Stadt, macht vom Lärmpegel jedenfalls keinen Unterschied mehr.
Nein: ACDC-Revival-Partys sind nach wie vor Lärmbelästigung
Die Uhren drehen sich langsamer, so sagen die Leute. Das ist vielleicht der Grund für diese Phallus-Rock-Vorliebe alternder Dörfler und ihrer Sprösslinge. Und natürlich sind nicht alle so, sicherlich veranstaltet der Zahnarzt aus dem Dorf immer noch Beethoven-Gedächtnis-Konzerte im Kurhaus. Irgendwie auch schön, wenn sich manche Dinge nie ändern. Das schafft Beständigkeit, Vertrauen, Routinen helfen Kleinkindern ja auch, sich zu orientieren. Aber wann drehen sich die Uhren nicht nur langsamer, sondern bleiben stehen? Ich bin in der Dorf-Soziologie gar nicht firm, ich vermute bei mir selbst starke Vorurteile. Diese Vorurteile schaffe ich bisher nicht abzubauen. (Und es fällt mir wirklich schwer, wenn ich kurz, nur ganz kurz recherchiere, um mich selbst zu entlarven, und gleich der erste Eintrag in Google zu „ACDC Dorf“ dieser hier zu einer Veranstaltung aus der Zeit kurz vor dem Lockdown ist.) Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass es einfach wird, gute Freund*innen zu finden, denen ich das Gendersternchen nicht erklären muss.
Andererseits triggert die WG-Party von Nebenan auch nicht unbedingt mein synästhetisches Empfinden im Positiven
Die Stadt ist laut und dreckig und ich habe Angst, meinen Sohn mit dem Laufrad drauflosradeln zu lassen, wenn die nächste die große Kreuzung am Ende der Straße auftaucht. Ich habe hier tolle Freund*innen gefunden, aber ich weiß, dass es Orte gibt, die ich meide – weil mir die Klientel nicht zusagt. Ich war als Teenager ja auch nicht im Schützenverein oder bei der Freiwilligen Feuerwehr. Das war nicht meine Szene, meine Peers waren wo anders. Und ich hatte Freund*innen – die alle, so wie ich auch, es nicht erwarten konnten ENDLICH in die Stadt zu ziehen. Nie, niemals, im Leben nicht, auf gar keinen Fall wollte ich j e m a l s wieder zurück aufs Land ziehen.
Vielleicht ist es mein Stolz, der konkrete Pläne verhindert
Es würde mir vorkommen, als hätte ich in der Stadt versagt. Ich habe es versucht, habe 13 Jahre in verschieden großen Städten gelebt, studiert und gearbeitet. Mein Freund*innenkreis ist nie riesig gewesen (das wäre mir viel zu anstrengend), aber ich habe hervorragende Menschen kennengelernt, ich habe so viel gelernt, habe so viel gesehen (wahnsinnig Lustiges, wahnsinnig Schreckliches), habe bestanden, dachte ich immer. Rücksicht in der Stadt lebt sich anders. Pfand gehört daneben. Um zur Demo zu gehen, muss ich nicht mit dem Auto fahren, nur weil zum nächsten Bahnhof kein Bus fährt. Ein Lastenfahrrad wäre mein Traum, wäre aber in der Elektroversion so teuer, wie drei Monatskaltmieten in einer Wohnung, die ich mir gern leisten könnte – es aber nicht kann. Weil die Stadt nur was für „Gewinner*innen“ ist?
Lebt es sich in der Stadt nur dann bequem, wenn das nötige Kleingeld vorhanden ist?
Eine Lifestylefrage, ganz klar: Will ich aufs Land, weil ein Lebensstandard, der für unsere kleine Familie schöner ist, nur dort finanzierbar ist? (Wir brauchen jetzt mehr Zimmer, wir wollen unkompliziert in die Natur, wir möchten keine Angst im Straßenverkehr haben.) Wie gemein ist das? Andererseits brauchen andere zum Glücklichsein auch keinen Garten und eine Riesenbude mit Parkett. Die sind vielleicht genügsamer als ich. Mir schwant aber immer der soziale Abstieg:
Alle Positionierungsfragen sind nur noch rhetorisch vor dem Hintergrund (Späti vs. Tanke, Fahrrad vs. Auto, Altbau vs. Garten, 5 Bioläden in einer Straße vs. 1 Hofladen 10 km entfernt, zu dem ich nur mit meinem Auto gelange). Was bringt es mir, dass ich jetzt noch die Auswahl an Bioläden habe, aber nicht mehr, wenn ich wegen der vergrößerten Familie irgendwo an den Stadtrand ziehen muss? In eine Gegend in der ich mir eine 4-5 Zimmer Wohnung eben leisten kann, wo aber alles bisher Fußläufige dann nur noch mit Bus und Bahn zu erreichen sind. Wo die Spielplätze grau zwischen Platten verschwinden? Lebensqualität gleich zero. Also doch aufs Land. Weil: im eigenen Garten kann ich Gemüse anbauen.
Auf dem Land lebt es sich ohne nötiges Kleingeld auch nicht unbedingt bequemer
Denn auch hier gibt es scheußliche Mietwohnungen und dann nicht mal Zerstreuung auf dem benötigten Niveau. Klar gibt es tolle Wanderwege, Rebhühner auf Wildblumenwiesen und Hochlandrinder. Aber für das nächste Programmkino sitze ich eine Stunde im Auto. Wo es günstigen Wohnraum gibt, gibt es selten mehr als einen Bus pro Tag. McDonalds und der neueste Film mit Adam Sandler gehören nicht zu meinem bevorzugten Unterhaltungsprogramm, so arrogant das klingen mag in den Ohren eines Fans – ist halt einfach nicht meins. Und was wird meins sein, wenn wir uns für mehr Natur in unmittelbarer Nähe entscheiden? Natur etwa?
Und zuletzt: Land ist nicht gleich Land
Je nach Stadtanbindung (da haben wir es wieder) und Gegend ist Wohnraum auf dem Land auch nicht günstiger. Wir müssten schon in die Pampa, um tatsächlich günstiger wohnen zu können. Und weil dann plötzlich ein Auto essentiell wird, spare ich zumindest an der Stelle nichts mehr ein. Andererseits spare ich Geld aufgrund von mangender Zerstreuungsmöglichkeiten. Und wieder andererseits: Mit Baby und Kleinkind sind unsere Zerstreuungsgelegenheiten auch eingeschränkter. Ich hätte gerne mal eine realistische Gegenüberstellung, so monetär gesehen. Gibt es sowas?
Trotz aller Bedenken werde ich den Gedanken nicht los
Das spricht vielleicht einfach für sich. Wenn die Zeit gekommen ist, gibt es kein Hin und Her mehr. Dann entscheidet der Bauch. Vielleicht gibt es einmal einen Tag, eine Gelegenheit, einen Funken der überspringt und wir packen unsere 90 Bücherkisten in der Stadt ein und auf dem Land wieder aus. Lesestoff haben wir ja genug. Und, mein Gott, es bleibt uns ja immer noch das Internet.
Vor ein paar Tagen waren alte Freund*innen meiner Eltern zum Abendessen geladen, die uns in die Richtung Landleben bestärkten: „Mit drei Kindern fanden wir damals in Köln auch einfach keine Wohnung mehr, die nicht zu eng war. Aufs Land zu ziehen, war die beste Entscheidung. Wir haben es nie bereut.“ Warten wir also mal den Kindersegen ab. Erstmal kommt nämlich Nummer zwei. Und wir sehen jetzt schon: Der Platz wird eng in unserer Wohnung.
Fotocredits: Wiebke Eltner – Viveka Fotografie
Oh wie toll geschrieben. Ich als alter »Städter« kenne diese Gedanken-Gänge bzw. vor allem Gedanken-Experimente zwar auch, aber natürlich nur aus der einen Perspektive. Aus der Perspektive des »Städters« eben. Ich kenne die Perspektive »nicht-in-der-Stadt-aufgewachsen« nicht aus eigener Erfahrung. Natürlich habe ich ein paar Vorstellungen und Ideen und (relativ unkonkrete) Empfindungen dazu. Aber eine durchdacht-gefühlte Haltung kann ich natürlich niemals entwickeln.
Damit bist du mir einen großen Schritt voraus. Das ist toll. Und als Stadtmensch ist die Möglichkeit auf dem Land zu leben natürlich auch immer eine attraktive Idee. Doch je weiter ich darüber dann nachdenke, kommen immer mehr Zweifel auf. Kann ich mit den Leuten dann gut auskommen? (In der Stadt ist es so anonym, da kann ich einfach woanders hingehen, wenn ich mit Leuten nicht harmonieren). Auf dem Land stelle ich mir das problematischer und viel auswirkungsstärker vor (mitgehangen – mitgefangen). So schnell packt mensch ja dann doch nicht wieder alles ein und zieht weg/weiter.
Oder auch die erwähnten Entertainment-Möglichkeiten. Das würde mich schon vorab stark abschrecken. Ich als alter Späti-Liebhaber, der immer ungeplant Besorgungen erledigt. Allerdings: wie oft kann ich derzeit wirklich ungeplant und zufällig am Späti abhängen mit Kleinkind?
Und so weiter und so fort.
Daher finde ich die beiden Perspektiven so toll, die du aus echter Erfahrung aufzeigst. Ich wünsche viel Erfolg bei der weiteren Entscheidungsfindung. Und sicherlich auch Durchhaltevermögen/Elan!
Danke! Da greifst du auch noch mal einen für mich wichtigen Punkt auf: Die Anonymität. Als ich anfing zu studieren war ich in einer sehr kleinen Uni, die Stadt war eine typische Studentenstadt, wie es so heißt. Ich habe es gehasst. Nach zwei Semestern dann der Wechsel und der großer Hörsaal war eine absolute Wohltat. So sehe ich das in der Stadt auch: Ich laufe durch den Park und bin einfach nur eine Frau, die durch den Park läuft. Tue ich das auf dem Dorf, bin ich Miriam, die offenbar ganz viel Zeit hat. Sowas eben.
Hey, hier war es genauso. Wir haben in Münster drei Kinder bekommen und brauchten dann dringend eine größere Immobilie. Wir sind dann zurück ins Dorf gezogen. Ich bereue es!
Der größte Faktor ist: keine Wahlmöglichkeit. Egal worum es geht, es fehlt die Möglichkeit aussuchen zu können. Die Frauen beim
pekip sind nicht mein Fall? Pech! Der eine Kinderarzt ist zu krasser Anthroposoph? Pech! Die Grundschule hat nicht das, was mein Kind braucht? Pech! Ich hab Abends spontan Ausgang und kann nirgendwo hin? Pech! Ich liebe die Stadt und vermisse sie!
Ich hoffe, ihr könnt eine gute Entscheidung treffen. Keine getroffene Entscheidung ist in Stein gemeißelt.
Liebe Grüße
Christina von
http://www.abenteuer-familienleben.de
Ah, das ist echt interessant. Solche Dinge gehören zu meinen größten Befürchtungen, meist habe ich aber den Eindruck, dass alles sich auf dem Dorf plötzlich in so einer phlegmatischen Genügsamkeit gemütlich machen, Ansprüche runterschrauben und so weiter. Schön, mal eine ehrliche Gegenmeinung zur allgemeinen Romantisierung zu lesen! Merci dafür 🙂
Verkehrstote (auch Kinder) gibt es mehr auf dem Land (zumindest hab ich das in ein paar Verkehrswissenschaftlichen Studien gelesen). Ich denke das die vermehrte Pendel Zeit viel „Geld“ kostet. Am besten eine pro contra Liste machen, paar Studien lesen und dann entscheiden. Ich wohn deutlich lieber beengt in der Stadt und muss nicht jeden Tag 2 Stunden Taxi Papa sein. Gibt zum glück aber auch kleine Städte die beide Standortvorteile etwas vereinen.
Da hast du recht, die Option „Kleinstadt“ taucht in meiner bisher recht schwarz-weißen Welt noch gar nicht auf. Und so wie die Depperten über die Landstraßen pesen wundert mich die Verkehrsstatistik kein bisschen 😉