Auf irgendeiner Sprüchekarte in einem sozialen Netzwerk deiner Wahl habe ich mal etwas gelesen, das ich folgendermaßen erinnere:
„Manchmal fühlt man einen riesen Haufen Scheiße und alles, was wir tun können ist, es zu bemerken und zu managen.“
>hier beliebigen TikTok-Coach einfügen<
Die eigene Misere einfach annehmen, fühlen, was ist, und sonst nichts tun – Ei, Ei, Ei. Schwer vorstellbar. Nicht nach Lösungen suchen sondern Akzeptanz und Annahme. Klingt in den Ohren der einen total mindful und in meinen Ohren klingt das einfach nach Kontrollverlust.
Zu den einzigen Situationen, in denen ich eine sehr schmerzhafte und anstrengende Situation überraschend gelassen annehmen konnte, zählten die Geburten meiner Kinder.
Grundsätzlich bin ich also fähig, schlechte, unangenehme oder angsteinflößende Zeiten anzunehmen. Ich wünschte mir diese Fähigkeit ein bisschen ausgeprägter. Denn was passiert, wenn ich denke, die Kontrolle zu verlieren?
Leider raste ich dann aus.
Schöner wäre das: Hallo Schmerz, da bist du also. Interessant, das tut jetzt weh. So ist das. “Radikale Akzeptanz” kann das heißen und geht zurück auf einen therapeutischen Ansatz zur Linderung spezifischer psychischer Erkrankungen, die Dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) nach Marsha Linehan. Es muss nun nicht jedesmal eine schwere Störung vorliegen, wenn man sich bescheiden fühlt. Schmerz, Wut, Angst, Ekel – alles normal und darf sein. Mich spricht das Prinzip der “radikalen Akzeptanz” mehr an als ein Buddhismus-Buddy-Podcast. Akzeptieren fällt mir schwer, ich bin ständig auf der Suche nach Lösungen und Ursachen. Milde weglächeln fühlt sich aber falsch an. Immer, wenn es mir besonders schwer fällt, etwas wegzulächeln und ich mich daran stoße, etwas einfach zu akzeptieren, denke ich:
„Vielleicht bin ich nämlich doch sehr doll krank und habe eine ernstzunehmende psychische Erkrankung, die über das zehntel Internet-Narzissmus meiner schillernden Persönlichkeit hinausgeht.“
In den letzten Wochen hatte ich immer wieder Tage, an denen es mir richtig dreckig ging. Obwohl es einzelne Tage waren, an denen ich mich niedergeschlagen fühlte (oder überfordert, oder gestresst) hatte ich sofort Angst, depressiv zu sein.
Und wenn ich auf dieses Jahr zurückblicke, denke ich, ich sei die ganze Zeit depressiv gewesen. Dabei war ich nicht hoffnungslos und ich habe viel unternommen und ich hatte keine Schwierigkeiten einzuschlafen (wenn ich endlich durfte) und ich bin nicht grundsätzlich in schwarz-weiß-Malerei gefallen. Es gab aber kurze Phasen in denen ich unglaubliche Existenzangst hatte und damit einhergehend doch: Hoffnungslosigkeit.
Es tut gut zu wissen, dass solche Gefühle auch (und gerade angesichts von Geldnot, Schimmel und Ratten) völlig normal sind und mich nicht zur Kranken machen.
Ich bin ja nur eine Mama mit sehr wenig Schlaf, deren Körper enorm viel geleistet hat und deren Geist viel leistet. Ich bin oft erschöpft, ich bekomme nicht genug Schlaf und wir können es uns nicht leisten, umzuziehen. Das erste Babyjahr ist hart. Und auch, wenn es das zweite Baby ist- aber das ist nichts, was ich nicht fühlen darf. Es ist ok (ich brauche trotzdem keinen Applaus für mein bare minimum, das ich manchmal nur im Stande bin zu leisten).
Ich wünschte, ich wäre immer so fit, produktiv, effizient und gut gelaunt, wie an 3 von 7 Tagen. Aber an 2 Tagen bin ich müde und gestresst und an weiteren Tagen ängstlich, unendlich müde und dann fehlt mir jede Zuversicht. Diese 2 von 7 Tagen bewirken, dass – fragte mich jemand- ich antworten würde: in den letzten zwei Wochen war ich die meiste Zeit hoffnungslos und niedergeschlagen.
Eine Wahrnehmungsverzerrung
Gibt es das: eingebildete Depression? Kann ich ein Gefühlshypochonder sein? Überdramatisiere ich meine schlechte Laune? Damit habe ich meine schlechten Tage lächerlich gemacht, das ist auch nicht meine Absicht.
„Stelle die Berechtigung deiner Gefühle nicht in Frage, schäme dich nicht dafür“
heißt es dann irgendwo im Internet oder in einem Ratgeber
So viele Mental Health-Advokaten und so viele Dies-Das-Awareness-Days und ich kann das nicht: meine Gefühle akzeptieren. Ich bin am liebsten fröhlich. Wer nicht?
Jedes Mal, wenn ich nicht fröhlich bin, habe ich sofort Schiss, eine schwere Störung zu haben.
Neulich habe ich meiner Schwester erzählt, dass ich überlege, ob ich nicht auch ADHS haben könnte: Ich bringe oft Dinge nicht zu Ende, die ich begonnen habe, meine Frustrationstoleranz ist je nach Stresslevel eher so mittel, ich habe meistens einen inneren Drang, ganz viel zu machen und wenn mich was nicht interessiert, knack ich weg. Achja: Wenn ich schlecht geschlafen habe, bin ich zerstreut.
Laut diversen Tests im Internetz habe ich es manchmal und manchmal nicht:
Also: ADHS oder einfach Zwei unter Drei während globaler Pandemie?
Letzteres wahrscheinlich. Ich könnte ja einfach auch akzeptieren, dass ich meistens viele Ideen und einen hohen Tatendrang habe und es deswegen natürlich einfach nervt, stillender Weise einen Text nicht am Rechner schreiben zu können, sondern in die Notizenapp auf dem Händi – I do not like that 🤷♀️
Das macht mich unruhig und unausgeglichen, aber nicht Neurodivers.
Nicht falsch verstehen, ich finde es gut, dass durch soziale Medien mehr auf das Spektrum aufmerksam gemacht wird und es vielen Menschen (und ihren Angehörigen) dabei hilft zu verstehen, was mit ihnen los ist. Das schenkt Erleichterung und hilft dabei, Stigmatisierung aus dem Weg zu räumen und sich Hilfe zu suchen.
Auf die Idee mit dem ADHS bin ich auch nicht gekommen, weil ich die Krankheit noch aus der Schulzeit mitsamt des kollektiven Ritalin-Abusus‘ kenne, sondern weil sich in meiner Blase immer mehr Instagram-Biografien neben dem Pronomen auch der Hinweis auf die Neurodiversität befindet.
So beginnt eine meiner oberflächlichen Recherchen und für einen Nachmittag meine ich zu wissen, was mit mir nicht stimmt. Dabei ist mit mir alles in Ordnung. Ich habe einfach nur immer diese halbe Stunde zu viel Zeit, wenn ich hier so sitze und mehr oder weniger stumpfsinnige Arbeiten verrichte oder stille oder abends liege und das Kind wieder zurück in den Schlaf stille, Zeit in der ich zu viel nachdenke. Will nicht sagen Grübeln. Oder doch? Das hier ist das Emoji, das mir vorgeschlagen wird, wenn ich am Handy das Wort „Grübeln“ schreibe: 🤔 so sehe ich dann aus, mit meinem milchfleckigen T-Shirt auf den Schokoladefleckigen Sofa.
Gewollte Gefühlshypochondrie
In einer Welt, die darauf ausgerichtet ist, aus dem Gefühl von Mangel Kapital zu schlagen, habe ich internalisiert, mich mit Hilfe bestimmter (käuflich zu erwerbender) Mittel besser zu fühlen. Das beginnt mit dem Drang “Lösungen” für alles zu suchen. Das Gefühl, wertlos zu sein oder auch nur fehlerbehaftet ist ganz praktisch in einer Welt, in der es für alles immer eine Lösung zu geben scheint. Nur, dass die Lösung nie perfekt ist und das Problem nicht im Ursprung behandelt. So kann immer herumgedoktert werden: hier ein Coaching, da ein Ratgeber, ah, geil, ein Wochenendseminar, eine Feel-Good-Forever-University.
Merke: Ich beziehe mich nicht auf ernsthafte psychische Erkrankungen, sondern auf das vage Gefühl, dass mit einem was nicht stimmt.
Ich denke an die „Normal-Gestörten“, wie die Büchertisch-Psychologin Stefanie Stahl sie nennt, welche wie ich, die eventuell einfach sich selbst und wie sie eben sind, akzeptieren dürfen, ohne sich teure Noise-Cancelling Kopfhörer kaufen zu müssen. Als ich neulich meinen MacBook zum Reparaturservice brachte und in der Schlange vor der Servicestation die Gelegenheit hatte, das technische Angebot zu studieren (🤔 ) fielen mir besagte Kopfhörer auf und ich verspürte ein Verlangen danach – ich meine, 240 Flocken hatte ich eh nicht über, aber wozu auch?
So. Wenn ich nun keine Depressionen und auch kein ADHS habe, vielleicht bin ich ja wenigstens hochsensibel?
Immerhin sollen laut dem Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik. 15-20% der Menschen im deutschsprachigen Raum hochsensibel sein (Stangl, 2023). Es handelt sich dabei zwar “nur” um eine Wahrnehmungsbegabung und keine Krankheit, allerdings sind die Sinne andauernd so geschärft, dass Körper und Psyche so ermüden, dass die Betroffenen einfach fertig mit der Welt sind. Ich bin auf jeden Fall fertig mit der Welt, kann ich schon so sagen.
Und: Offenbar wissen viele Hochsensible vielleicht gar nichts von ihrer starken Sensibilität: “denn wenn jemand nicht an seiner Veranlagung leidet und in einem Umfeld lebt, wo diese Wesensmerkmale geschätzt werden, wird er oder sie sich kaum auf die Suche machen”, heißt es bei Stangl, und weiter: “Hochsensible lieben zusätzlich meist die Ordnung, denn auf ihrem Schreibtisch muss alles seinen Platz haben, sie bevorzugen genaue Abläufe und halten diese gewissenhaft ein – oft zwanghaft getönt.”
Das ist einfach alles so schwammig und weit auslegbar: Wäre ich ordentlich, würde ich jetzt Bingo rufen, bin ich aber nicht. Trotzdem bekomme ich im Gewandhaus eher Gänsehaut als auf einem, sagen wir, Hip-Hop-Konzert. Weil meine musikalischen Antennen so superduper fein sind. Was nicht heißt, dass ich Hip-Hop doof finde, ich sage das nur, weil es ein Klischee ist, dass die eine Musik “wertvoller” sei, als die andere und ich könnte das in meiner Argumentation für meine Feinsinnigkeit für mich nutzen. Ich könnte mir also alles so zurecht legen, bis es passt, immerhin habe ich eine bestimmte Ordnung, die ist nur nicht offensichtlich, aber für mich persönlich passt es. Ich könnte das schieben und drücken, ziehen und quetschen bis alles passt und – Ta-Dah – habe ich endlich, endlich mein Label ❣️ Und das Schöne: „Sensibel sein“ ist eigentlich ein gesellschaftlich total akzeptierter Makel. Das ist so harmlos, es ist für niemanden eine Belastung, nur für die betroffene Person eben unangenehm, wenn die Reizflut zu groß ist. Was macht die Person dann? Sie zieht sich zurück. Das würd ich auch so gerne mal!
Es ist aber nicht so, dass eine hochsensible Person aufgrund ihrer „Wahrnehmungsbegabung“ nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilnimmt. Es fehlten außerdem noch immer wissenschaftliche diagnostische Instrumente. Die bisher eingesetzten Fragebögen gehen auf die US-amerikanischen Psychologin Elaine N. Aron zurück, von der auch die begriffliche Prägung des Konstrukts stammt und beruhen ausschließlich auf der Selbsteinschätzung von Betroffenen und sind kaum statistisch überprüft.
Ich reihe mich nicht ein in die “Trenddiagnose”-Rufe mancher Medien und Expert*innen
Ich kann nicht einschätzen, was das bedeutet und es darf ruhig mehr geforscht werden. Ich denke, dass Menschen Sinnesreize unterschiedlich wahrnehmen und verarbeiten und das Annika genauso liebenswert ist wie Pippi. Ich werde nur immer dann stutzig, wenn der Bogen von etwas grundsätzlich Normalen allzu schnell überspannt wird: Einige Aspekte der Hochsensibilität ähneln Merkmalen von Autismus. Die Vermutung sei, so Stangl, dass die meisten (Asperger-)Autisten hochsensibel seien und die Grenzen zwischen den Phänomenen fließend.
Was ich in sozialen Medien momentan beobachte ist, dass Leute, die vor ein paar Jahren anfingen Info-Karusselle über Hochsensibilität zu teilen, plötzlich Autisten sind. Mindestens steht jetzt „neurodivers“ in der Insta-Bio. Ganz arg überspitzt: Wie passend, von allen Behinderungen ist das jedenfalls die mit relativ hoher gesellschaftlichen Akzeptanz: Asperger? Oh, Inselbegabung! ADHS? Kreatives Chaos, unerkannt schlau!
In Sachen „Awareness“ bezüglich neurodiverser Merkmale erweist sich die inflationäre Selbstzuschreibung als Bärendienst: Je öfter sich Leute das auf einem Schild vor sich hertragen, desto unglaubwürdiger wird es insgesamt betrachtet. Und diejenigen, die tatsächlich darunter leiden, müssen mehr als zuvor um Akzeptanz kämpfen.
Hochsensibilität ist leider nur so niedlich:
Unwohlsein in großen Menschengruppen aber keine Angststörung. Schlecht im Smalltalk, aber keine Sozialphobie. Super ordentlich aber keine Zwangsstörung. Wahrnehmung vieler Details – das ist einfach interessant und kann mal nützen und dann wieder etwas hinderlich sein.
Sie ist die kleine Schwester der großen Leiden aus dem Spektrum. Und taugt auch nicht zur Persönlichkeitsstörung, aber durchaus als Türöffner in die wunderbare Welt des Sammelns von Opression Points. Muss herhalten als Grund dafür, von seinen Kindern Urlaub zu wollen oder warum man nach dem dritten Wutanfall beim Schuhe anziehen die Geduld verliert. Es ist eine schöne Bezeichnung für ein sensibles Gemüt, dass dann auch noch irgendwie begabt zu sein scheint. Schön! Und wird vor sich hergetragen, um alle vorzuwarnen: Achtung, bitte nicht schubsen, ich BIN der Joghurt im Rucksack.
Das ist jetzt alles sehr gemein
Denn ich zweifle nicht am Leidensdruck, den Menschen spüren, wenn sie sich die “Diagnosen” selbst (!) zuschreiben. Ich halte es trotzdem für nicht sinnvoll, mit den Begriffen hausieren zu gehen, ohne das professionell abgeklärt und begleitet zu haben. Ja, es stimmt, wir haben einen gefährlichen Mangel an Therapiemöglichkeiten und eine erste Vermutung kann dazu führen, sich endlich Hilfe zu holen. Aber daraus einen extra TikTok-Kanal zu machen hilft weder der Sache selbst noch der persönlichen Ebene, wenn ohnehin drei Wochen später die nächste Sau durchs Dorf gejagt wird.
Ich beobachte an mir selbst, wie mich diese Diagnosen-Flut mitreißt. Es hilft mir nicht, eine anstrengende Zeit besser zu meistern, wenn ich immer wieder dazu verleitet werde, die Ursache im Außen zu suchen. Alle anderen, die Umstände, der Kapitalismus, das System, allealle sind schuld. Ich bin es Leid, darüber zu jammern und finde gleichzeitig nicht, dass es schlau ist, nur bei mir, in mir, individuell zu bleiben. Ich lande ja doch im Außen. Liegt es nun an mir persönlich, alle Probleme dieser Welt zu lösen? Einerseits radikale Akzeptanz üben und gleichzeitig das Patriarchat zerschmettern – geht das?
Hoffentlich. Denn ich glaube, dass man im ersten Schritt radikal akzeptieren muss, um überhaupt erstmal die Kraft dazu zu haben.
Verwendete Literatur
- Aron, Elain: Sind Sie hochsensibel? Wie Sie Ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen. mvg, Heidelberg 2005
- Dr. Arnhold, Julia (2021, 29. Dezember). Radikale Akzeptanz. https://www.psyberlin.com/2012/01/23/radikale-akzeptanz/
- Stangl, W. (2023, 9. November). Hochsensibilität. Online Lexikon für Psychologie & Pädagogik https://lexikon.stangl.eu/2896/hochsensibilitaet.